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Kommt Bahn - kommt Säure

 

Ein Blick auf den Kalender, und der Fachmann (respektive die Fachfrau) weiß, dass es jetzt wieder losgeht. In wenigen Tagen erwacht die Bahnsaison wieder aus dem Winterschlaf. Der Geruch von erhitztem Tartan lässt das Läuferherz höher schlagen. Trockene Luft und Temperaturen über 25°C begegnen den Athleten wieder, während sie die Spikes für den Wettkampf schnüren. Cross und Straßenläufe rücken wieder ins zweite Glied. Die 400m Rundbahn ist jetzt erneut Schauplatz für spannenden und vor allem schnellen Rennen. 

Und schnelle Rennen erfordern auch schnelles Training. Dies bedeutet, sofern die Hallensaison gemieden wurde, dass jetzt auch kurze, schnelle Tempoläufe auf dem Programm stehen. Viel wurde in der Wintersaison auf Ausdauer und Grundlagen Wert gelegt. Runde um Runde wurde im Flutlicht des erhellten Stadion abgespult. Ob  Schnee oder Regen. bei allen Bedingungen. Kälte und Dunkelheit waren stets präsent. Die Mammutprogramme  beinhalteten kaum eine Strecke, die unter eine Distanz von 800m ging. 3000m waren zumindest bei mir Spitze. Spikes waren nur bei Crossläufen im Einsatz. Die Trainingszeiten konnten auch mit Turnschuhen erzielt werden. Nicht schnell, aber lange, sehr lange.

Jetzt sieht das wieder anders aus. Es ist wieder so weit, Langsprintstrecken von 200m bis 600m begegnen einem auf dem Trainingsplan wieder. Jetzt wird im Training mehr auf Schnelligkeit und Spritzigkeit trainiert. Und diese beiden Eigenschaften sind mit einem ganz besonders intensiven Gefühl verbunden. Dem Gefühl der Übersäuerung, Dann, wenn es in die anaerobe Phase geht. Der Sauerstofftransport nicht mehr nach kommt. Milchsäure produziert wird. Sprinter können nicht genug davon kriegen :)

Wenn ich an diese Art von Kampf denke, sehe ich immer nur ein Bild vor mir. Übersäuerung bedeutet für mich Noah Ngeny (KEN). Ich weiß nicht warum, aber wenn dieser kenianische Wunderläufer auf die Zielgerade einbiegt, dann kann man richtig mitfühlen. Speziell bei seinem 1000m Weltrekord (2:11,96 min) kam dies ganz besonders zum Ausdruck. Weit aufgerissene Augen, der Schritt wird kantiger, der Mund, die Lunge aufgesperrt. Luft, Luft scheint er zu schreien. Seine Arme, die den Körper immer mehr nach außen verlassen, scheinen mitlaufen zu wollen. Wie Schaufeln versuchen sie den übersäuerten Beinen helfen zu wollen. Er ist das Synonym für Übersäurung.

Nur wer einmal selbst dieses Gefühl hatte, das Gefühl der Gummibeine, der weiß wie sich das anfühlt. Während den Tempoläufen ist dies wahrscheinlich nicht so intensiv, wie bei einem Weltrekordlauf über 1000m, aber intensiv genug um es zu Vergleichen. Ein kleiner Einblick, soll Neulingen weiterhelfen.

Wir schreiben irgend einen Sommertag,. Mitte Juni. Das Stadion in Benzach, liegt völlig frei und ungeschützt am Rande der Weinberge. Die  rote Tartanbahn erfährt die gnadenlose Hitze der Sonneneinstrahlung. Den ganzen Tag wurde sie geröstet. Es ist zwar schon 17:30 Uhr, aber von Abendtemperaturen kann gar keine Rede sein. Außer einem leichten Lüftchen gibt es keine Erfrischung. Die Bahn ist bereitet, für ein "angenehmes", "lockeres" Training.

Nachdem sich die Läufer und Läuferinnen der LG Weinstadt Warmgelaufen haben, sind die Kleider nass geschwitzt. Die Beine noch müde, vom langen Freibadaufenthalt. Alle sind Wort wörtlich heiß, heiß auf die Tempoläufe. Dehnen, Koordination, dann ist es soweit. Ein kurzer Schluck von dem "angenehm" warmen Mineralwasser. Den Kopf noch einmal unter den Wasserhahn. 

Der Trainer verkündet das Programm. Die angenehmen Temperaturen in den Katakomben sorgen für etwas Erholung. Sie sind die Höhle, draußen wartet die Hölle. 4x 500m/300m mit 3' Pause. Zeiten: "Schön, gibt's die auch für unmenschliche Bedingungen?" Das Trikot an, und raus in die Tartanwüste. Spikes dürfen jetzt auch mal wieder ran. Sie müssen ran. Die Bahn muss heute  leiden. Sie wird die Nägel zu spüren bekommen. Ich werde die Schmerzen mit ihr teilen. Es geht an den Start.

Die ersten 3 Serien sind geschafft. Leicht hat sich die Säure, auf den letzten Metern der ersten Läufe, schon bemerkbar gemacht. Das Trikot  ist nass, die Haare schon wieder trocken. Kein Wunder bei der Hitze. Nur die Hat versucht sich mit Schweiß gegen die Hitze zu schützen. Der Gaumen ist trocken, der Atem geht schwer. Die letzten 2 Läufe stehen an. Das Befinden ist nicht schlecht. "Gut" will ich aber gar nicht in den Mund nehmen. Eine neue Trainingsbestzeit über 500m ist drin. Doch auch diesen Lauf will ich noch nicht im Detail beschreiben, denn der Wahre kommt erst noch. 

Nach dem 500er bin ich platt. Auf den letzten 200m musste ich schon ordentlich in die anaerobe Phase gehen. Auf der Geraden, versuchte ich vergeblich nach Luft zu schnappen. Ngeny lässt grüßen. Doch zu einer neue Trainingsbestzeit hat es gereicht. Vielleicht hätte ich mich mit einer langsameren Zeit begnügen sollen. Denn ein Lauf kommt noch. Es ist unerträglich warm. Der körper ist mit einer Wasserschicht überzogen,  das Trikot klebt.

Der Letzte, der Schlimmste, der Gemeinste. 300m, was ist das schon? Für Mittelstreckler ist das ein Klacks. 3x 100m. Im Grunde eine lockere Sache. Doch nicht nach diesem Programm. Ein leichtes Zittern der Beine, verrät die Ermüdung, oder die Angst? Der Gang ist schwer zum 300m Start. Völlig kraftlos und ermüdet fühlen sich die strapazierten Beine an. Die letzten 500m haben ihre Spuren hinterlassen. 

Ein letzter Blick rüber zum Ziel und los geht's. Von Anfang an volle Pulle. Nicht wie bei einem 100m Lauf, aber das Tempo ist so schnell wie bei einem 200er. Schon auf der ersten Gerade ist die Lunge im maximalen Einsatz. Die Kraft schwindet immer mehr. "Jetzt schon?"  Die Spikes drücken noch halbwegs kraftvoll auf die Bahn. Noch.... In die Kurve. Jetzt schon beginnt der Kampf. Der Geist ist willig. Voll durchziehen. Letzter Lauf, dann ist es vorbei. Das Ziel scheint nicht näher zu kommen. 150m: "Noch mal so lang", schießt es mir durch den Kopf. Weiter Beschleunigen. Die Ngeny'sche Phase beginnt . Augen zu und durch, nein Augen auf. Der Körper braucht jetzt alle Mittel, um das Ziel zu erreichen. Längst sind die Beine schwammig,, die Lunge scheitert bei dem Versuch, wieder in die aerobe Zone zu gelangen. Die Zielgerade ist endlos lang. Halten, halten, das Tempo halten. Es verlangt nach Erlösung,, nach Wasser, Luft, Regen. Alles, alles außer das, was ich hier tue. Die Beine sind voll im Nähmaschinenschritt. Man will die Übersäuerung ignorieren. Einfach weiter laufen. Vergeblich. Noch 50m. Die längsten die ich je gelaufen bin. Scheintod tritt ein. Ich will mich hinlegen. Nichts machen, nur daliegen. 30m. "AAAHHHH", wieso nicht 270m? Das reicht. Ich komm nicht mehr voran. Versuche die Frequenz zu ändern. Bitte? Ich will ins Ziel, egal wie. "Nicht verkrampfen!" Was hab ich da erzählt?  Noah Ngeny würde sich schlimmer fühlen?  Das nehme ich zurück. es kann nicht schlimmer, nicht härter sein. Der Finger zielt auf die Stop-Taste auf der Uhr. Alles ist übersäuert. Nur noch Säure. Mein Blut ist Säure.  Im Ziel: auf den Boden. Nur fallen lassen. Nie wieder aufstehen. Die Lunge pumpt nicht minder, als das Herz. Puls 100 000. Mindestens. Geschafft! Ich denke nichts mehr. Ich bin erlöst, ich hab es hinter mich gebracht. Ein geiles Gefühl im Ziel zu sein.

Fast eine halbe Stunde vergeht, bis wir zum Auslaufen aufbrechen. Ausgehen. Ein Zwischending. Barfuss, locker, immer lockerer werden die Beine. Die Milchsäure baut sich ab. Das Gras massiert die Fußsohlen. Das Training neigt sich dem Ende. Es war gut, es war intensiv, es war bereichernd. Es war nicht das Letzte. 

Anmerkung: Habe Leider noch kein passendes Bild gefunden. Kommt aber bestimmt noch.

Stefan Faiß (11./13.04.2002)