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Ratio vincit - plerumque

 

Klar und beschützend wölbt sich das abendliche Himmelszelt über mir, es gibt Geborgenheit, es gibt Zufriedenheit. Die Wärme legt den Körper in Wohlbefinden, ich fühle mich ausgeglichen, einfach nur wohl. Die Schatten vor mir bestimmen das Bild des Waldweges. Zwischen den Zweigen und Ästen blitzt der Feuerball hervor, er bringt den Wald zum glitzern.  Leichte, trockene Luft erfüllt meine Lunge. Dicht an dicht scharen sich die Bäume entlang des Weges: Tannen, Fichten, Buchen und Eichen. Inmitten des Laubes und des saftigen Grüns sind Farne und Wildbeeren eingebettet. Sie scheinen froh zu sein den heißen Tag hinter sich zu haben, bewegen sich im Rhythmus der aufkommenden Abendbrise. Einzelne Spaziergänger, Läufer und Läuferinnen erfreuen sich ebenfalls an abendlicher Stimmung. Es herrscht keine Hektik, kein Stress - nur Ruhe, Leben in Form von leben lassen.

Der Duft des Waldes, des Abends zieht an meiner Nase vorüber; ich schaue nach vorne, habe die Bäume links und recht in meinem Augenwinkel. Der Kies unter mir gibt den Ton an. Rauschen, Rauschen der Steine das meine Reifen ergreift, Rauschen des Fahrtwindes, der mich erfrischt. Ich genieße es, fühle mich nicht zu großer Anstrengung hingezogen und lasse alles seine Arbeit tun. Gedanken vom Wiederbeginn, von Wettkämpfen und anderen schönen Dingen bestimmen mein Bewusstsein.

Ich biege auf ein Stück Straße ein, auf dem Autos fahren. Dort verrät mir ein Blick auf meinen Tacho eine Zeit von etwa 60 Minuten. Ein Rennradfahrer lässt mich aus meiner Genussfahrt aufwachen. Diese Spezies sind meine liebsten Konkurrenten auf dem Rad. Sie sind zahlreich unterwegs und somit hervorragend für ein kleines Duell geeignet.

Mein Tritt wird kraftvoller, ich schalte auf ein größeres Kettenblatt. Mein Ehrgeiz hat mich gepackt, endlich wieder testen was „geht“. Die letzten 5 Wochen habe ich mich in einem reinem aeroben Ausdauertraining  wiedergefunden; von Übersäuern und Kämpfen keine Spur. Jetzt wollte ich ein Trainingsreiz setzen, wollte mal wieder den Trainingsbereich "Tempotraining" tangieren. Also rein in die Pedale und kurbeln. Dicht am Straßenrand summen meinem Reifen auf dem weißen Streifen: minimaler Rollwiderstand für optimale Leistung. Die Luft ist teils von Abgasen belastet, sie ist trocken und unrein. Die Straße ist breit, andere Autos und Fahrradfahrer kommen mir entgegen, der Rennradfahrer vor mir langsam aber sicher auch. Mit etwa 32km/h hänge ich mich in den Fahrtwind, ziehe mich an meinen Vordermann heran. Ich schere aus, rolle an ihm vorbei. Seine Mimik verrät mir, dass ihn das wenig kümmert. "Schade, kein Rennen." Trotzdem trete ich nicht minder schnell weiter. 30, 31 oder 32 Kilometer pro Stunde schreit mir mein Tacho entgegen. Das Grau unter mir fliegt vorbei, die Straße vor mir zieht dahin. Ohne Konkurrenz fehlt mir der Antrieb weiterzupowern.

Plötzlich ein Traktor hinter mir. Sicher könnte er mich überholen, seine angehängte Strohballenmaschine lässt ihn aber dieses Risiko nicht eingehen, er hängt sich hinter mich. "Ja, da war er wieder, der falsche Ehrgeiz." Dieses "Willst-du-tun-sollst-du-aber-nicht-Gefühl- egal, einmal nach dieser langen Periode kann ich schon mal wieder an die Leistungsgrenze herangehen. Ich tue es. Die Straße steigt leicht an, ich gebe weiter Gas, will mich dem Traktor nicht ohne weiteres geschlagen geben. 32, 33 km/h lassen meine Beine nicht ruhen. Die Oberschenkel brennen langsam, ich fahre schon 4 Kilometer über 30 km/h. Es macht Spaß, es macht Spaß sich mal wieder zu Quälen. Das tuckern des Traktors in meinem Nacken bringt mich zur Höchstleistung: Kilometer 5 ist passiert. Es tut immer mehr weh. Noch einen vollen Tritt, dann zieh ich mein Gesicht zusammen, lasse jede Spannung aus meinem Körper weichen - meine Kraft hatte mich verlassen. Ich schere rechts aus und lasse den Traktorfahrer ziehen. Ich habe das Tempo halbiert, rolle auf dem Parkplatz dahin. Die lange Abstinenz vom Tempotraining hat sich  bemerkbar gemacht. Ein Handgruß verrät mir, dass er es mir nicht übel nahm. Locker schüttle ich meine übersäuerten Beine aus, fühle mich gut, fühle mich nicht als Verlierer. Ob das nun mit meiner angeschlagenen Achillessehnen Sinn gemacht hat, frag ich mich. Wohl eher nicht, aber ich fühle mich dennoch besser als zuvor. So trete ich gediegen im Tritt und ausgeglichen im Kopf die letzten Kilometer Richtung Heimat an. 

Ich tauche wieder ein in das, was mir der Ehrgeiz genommen hat, ich versinke erneut im Einklang mit der Natur. Endorphine scheinen hier ihren Ursprung zu haben, hier auf dem Waldboden, dort in den Baumwipfeln, auf dem großen weiten Horizont. Rot, wärmend und ungemein geheimnisvoll taucht die lebende Sonne in die Landschaft, die sich weit entfernt erstreckt. Ich besitze nun keinen Ehrgeiz, keinen Willen nach Leistung. Ich genieße es, ich genieße die Umgebung in vollen Zügen. Hoffentlich bald wieder auch zu Fuß.

„Falscher Ehrgeiz ist eine gefährliche Grube, wir sollten eine Brücke darüber bauen." (Zumindest sagt man das... )

 

Anmerkung: Eindrücke aus einer meiner Fahrradtouren, die mir als Alternative zum, zur Zeit nicht möglichen, Lauftraining dienen.

Überschrift: "Die Vernunft siegt - meistens"

 

Stefan Faiß (03.06.2003)