zurück

 

Der Welt davonlaufen

 

Dort drüben, ein heulendes Kind, es ist aufgesprungen, nun rennt es die Wiese hinunter, die kleinen Schritte, der schreiende Ton. Dieses Kind hat keine Freude, dieses Kind will weg, weg von hier. Es rennt weg, weil es traurig ist, es rennt weil es Schmerzen hat, seelische Schmerzen. Immer weiter, immer weiter hinunter, das Gras drückt sich unter seinen kleinen Füßen zusammen, es scheint jeden Moment zu fallen. Es kommt in höheres Gras, die Spitzen huschen über sein Gesicht, die Tränen laufen in Strömen, was kommt weiß es nicht, zu weit ragt das Gras über seinen Kopf hinaus. Es wird langsamer, es bleibt stehen, schnappt nach Luft, schnäuzt sich die Nase, wischt sich die Tränen ab.  Angst und Unsicherheit bringen es zum stehen, das hohe und dichte Gras lässt die Einsamkeit in ihm wachsen. Es dreht sich im Kreis, es geht nicht weiter. Gedanken jagen durch das kleine Köpfchen. Das Kind kehrt um, es hat sich beruhigt, eingesehen, dass es nichts bringt. Die Mutti empfängt es schon wieder mit offenen Armen, es ist wieder im Leben, im geregelten Leben, der Fluchtversuch ist gescheitert.

Ich laufe auch, ich rennen auch die Wiese hinab. Ich weine nicht, ich laufe aus Freude, ich empfinde es zumindest als solche. Doch ist das alles warum ich nach einem anstrengenden Tag die Laufschuhe schnüre? Dann, wenn sich alles wie eine riesige Mauer vor mir aufbaut. Ist es das, warum ich einfach nur laufe - renne? Oder laufe ich auch vor etwas weg, versuch ich es vielleicht? Vor der Schule, dem Druck, der Gesellschaft, vor der Zukunft? 

Der Wirtschaft geht es schlecht, die Konjunktur lässt keinen Aufschwung erkennen. Arbeitslosenzahlen, Staatsverschuldung, und Pleiten plagen den Deutschen Bundesstaat. Hungersnöte, Aids, Kriege, Verbrechen und Armut belasten unseren Kontinent. Klausuren, Prüfungen, Termine, Streit, Stress und andere Belastungen fallen auf mich ein, sie wirken wie Zwerge im Gegensatz zu globalen Problemen. Wenn man darüber nachdenkt gäbe es genügend Gründe  davonzulaufen. Vielleicht nicht bewusst, vielleicht kann ich es aber unbewusst nicht mehr ertragen, vielleicht treibt mich mein Unterbewusstsein immer wieder zum rennen, zum davonrennen. 

Und wenn ich dann so laufe, wenn ich weglaufe, den Schutz des Waldes, das Gelände der Wiesen suche: Laufe ich dann all dem davon? Will ich wirklich vor dem Alltag fliehen? Ich motiviere mich nicht dadurch, was ich heute wieder in der Zeitung gelesen habe oder was in den kommenden Jahren auf mich zukommt, nein, ich will laufen, ich will Spaß haben, frische Luft tanken - oder doch nicht? Ist es ein Mantel, der sich über den wahren Grund hüllt, ist es nur Fassade von mir, die Fassade meiner Gedanken, die Fassade, die mich der Gesellschaft anpasst? Warum laufen denn immer mehr Menschen, warum suchen immer mehr den Weg zum Lauf-, zum Ausdauersport? Manager, die von diesem zum nächsten Termin hetzen, von Verhandlung zu Verhandlung stürmen. Oder Politiker, die dem Schrecken der Welt direkt ins Auge sehen, die sich jeden Tag aus Sackgassen befreien müssen Nur nach Außen scheinen sie entspannt, im Inneren wollen sie doch manchmal auch am liebsten allem davonlaufen. Sie genauso wie Mütter und wie Väter. Die Firma steht vor dem Konkurs, die Kinder geraten in Probleme, es stehen noch Schulden offen, ein unbezwingbarer Berg häuft sich vor ihnen an, der Weg zurück über die Wiese wäre leicht, er könnte im Laufschritt bewältigt werden. Sie alle versuchen sich immer mehr an diesem Ausweg, sie alle versuchen wegzulaufen, sie genauso wie alle anderen aus dieser Gesellschaft.

Die Bürde des Erwachsenseins lässt es nicht zu, heulend davonzulaufen, die Gesellschaft wacht über Gefühlssünder. Was machen sie deshalb? Sie hören von dem Stresskiller "Laufen", sie erfahren wie gesund doch dieser Sport sei, das er Spaß mache, gut für einen sei. Sie probieren es aus, sie erfahren Erfolge, können immer weitere Strecken zurücklegen. Oft machen sie es auch in Gruppen, sprechen von "zusammen macht es mehr Spaß". Doch niemand schafft es wirklich abzuhauen, jeder kehrt wieder zurück, kommt zur "Vernunft". "Ja, aber das weiß ich doch schon im voraus, dass ich umkehre, wieso soll ich also weglaufen?" Du weißt es? Du weißt, dass du es machen wirst, weil du erwachsen bist, weil du gelernt hast, dass weglaufen nichts bringt, das hat dich die Kindheit gelehrt, hat dir die Gesellschaft aufgezwungen. Früher hast du anders gehandelt, du wolltest nicht umkehren, aber du hast daraus gelernt, dass du jedes Mal umgekehrt bist. Andere sagen, dass sie laufen um ihre Grenzen auszutesten. Was sind denn die Grenzen? Ist es nicht jener Punkt, den das Kind im Feld erreicht hat? Ist es nicht jener Punkt der die Vernunft aufs Maximale belastet? Man rennt und rennt immer schneller, immer weiter an die maximale Leistungsfähigkeit heran - könnte schreien. Weil es weh tut? Nein weil uns im Unterbewusstsein klar wird, dass wir so auch nicht weiter können. Im inneren ist der Grund immer noch derselbe, heute wie damals. 

Nur heute haben wir eine Fassade, eine Maske, die keine Schwäche zulässt, mit der wir uns ohne aufzufallen in der Gesellschaft bewegen können, denn unsere Gesellschaft lässt keine Wegläufer zu, solche Menschen sind nicht erwünscht. Perfekte, zielstrebige und gefühlslose Roboter sind gefragt. Deshalb heißt Angst heutzutage auch Spaß - nicht immer, aber oft - einfach so, weil jeder es so akzeptiert, weil es sich so positiv anhört: "Ich laufe, weil es mir Spaß macht." Wir sagen das mittlerweile so selbstverständlich, dass es fast den Anschein hätte als sei das Konnotat von Spaß immer etwas positives, ist Weglaufen denn positiv? Wir haben den wahren Grund des Laufens zugemauert - Freude und Gesundheit ist auf den Steinen zu lesen. 

Das Kind zeigt seine wahren Gefühle, es kennt die Zwangsjacke Gesellschaftsordnung noch nicht, wir schon, wir sind in ihr gefangen. Das Kind in uns sucht noch immer das Heil in der Flucht, will der Welt heulend davonlaufen. Das Kind in uns kommt nur noch durch die Filter "So-muss-ich-sein!" und "So-darf-ich-nicht-sein!" in uns durch. Wir würden auch keine Marathons laufen, wenn es von der Gesellschaft nicht anerkannt wäre. Wir tun das nur, weil es viele machen, weil wir es nicht mehr aushalten. Wenn es all das nicht gäbe, dann, ja dann käme vielleicht der wahre Grund des Laufens zum Vorschein. Weglaufen, ja weglaufen wird ab einem bestimmten Alter in Training und in Wettkämpfe gepackt. Kinder? Nein, Kinder dürfen noch ihre wahren Gefühle zeigen.

Anmerkung: Link zu dieser Kolumne bei laufen-aktuell.de

Stefan Faiß (15.11.2002)